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Albtraum

Versiegte Tränen.

Tränen, 11/13
Wir Menschen drücken viele Emotionen durch Tränen aus. Nur, lesen und verstehen wir diese auch richtig? Eine Reportage über die Geheimnisse, die sich hinter unseren Tränen verstecken.
Albtraum

Albtraum

Versiegte Tränen

"Weil sie das Gefühl hat, dass, wenn sie weint, sie verliert, als ginge es um einen Kampf, unterdrückt sie ihre Tränen.
Sie möchte stark sein.
Sie möchte es schaffen ...
Von diesem Moment an, scheint die Zeit plötzlich anders zu fließen."
"Tränen" von Suug

„Eine Autoimmunerkrankung ist eine abnormale Reaktion des Immunsystems, die sich gegen andere gesunde Körperzellen richtet.“

Woher diese Krankheit kommt, sei noch unbekannt, sagt man.
Plötzlich bekämpfe der eigene Körper seine Antikörper, sagt man.
Es gäbe keine wirksamen Medikamente gegen diese Krankheit.
Bei dieser Krankheit bekommt man solange Schmerztabletten verschrieben, bis die Symptome von selbst verschwinden.
Bei dieser Krankheit scheint es, als ob der eigene Körper sich selbst zum Feind wird und sich umbringen möchte.
Diese Krankheit bekommt man, wenn man zu lange Schmerz ausgesetzt war.
Bei dieser Krankheit hilft es deshalb nicht, wenn man weint. Es ist, als träumte man einen sehr langen Albtraum.

In meinem Fall erlebte ich das so:
Die von einer Autoimmunerkrankung befallenen Schultern ließen mich meine Arme nicht mehr nutzen.
Schon eine winzige Bewegung fühlte sich an, als würden alle Nervenstränge reißen.
So pendelten die von den Schultern herabhängenden Arme vor sich hin, mit dem Schmerz der entzweireißenden Nerven.

Egal, ob beim Liegen oder beim Stehen – es schmerzte immer. Ein Albtraum!

Ein Albtraum! HUCH! Das ruft in mir einen noch größeren Albtraum wach. Er scheint auf irgendeine ungewöhnliche Weise mit diesem Albtraum verbunden ...

In dem Erdteil, in dem ich geboren wurde, der wie ein spitzes Eckchen aus einem noch größeren Erdteil unseres Planeten Erde herausragt, ereignete sich im Jahr 1980 in einer Stadt* ein grausames und brutales Blutvergießen. Damals kämpften Soldaten gegen die eigene Bevölkerung, als seien sie ein kriegerischer Feind. Sie ermordeten unzählige unschuldige Menschen ....
Auch wenn es sich doch eher wie in einem Krieg verhielt und es nicht richtig passt, die damaligen Ereignisse mit einer Krankheit zu vergleichen, scheint es mir rückblickend dennoch so, als sei dieser Erdteil damals von einer Autoimmunerkrankung befallen ....

Es war zu der Zeit, als Todesangst die Zeit stoppte, und der Marsch der Soldaten den vor Angst klopfenden Herzschlag eines jugendlichen Mädchens laut übertönte. Langsam breitete sich der faulige Gestank eines Gedankenflusses aus, der im weißen Kragen** ihrer Highschool-Uniform gefangen war. Obwohl die Stadt des Massenmordens weit entfernt lag, war der Schatten der Dunkelheit in der Hauptstadt, in der das Mädchen lebte, deutlich zu spüren. Eine mit Machtlosigkeit und Übelkeit gemischte Wut drückte wie ein schwerer Stein auf das Herz des Mädchens.
An der Ampel gegenüber des Hinterausgangs der Schule, gleich vor der Polizeistation, stand ein Wachsoldat. Ohne Gesichtsausdruck starrte er vor sich hin. Unter dieser Polizeistation herrschte Gesetzlosigkeit und Folter, so hatte es das Mädchen gehört. Mit vor Hass glühenden Augen näherte sie sich dem Wachsoldaten mit den fast toten und ausdruckslosen Augen. ... Aber vor ihm stehend, konnte das Mädchen kein einziges Wort herausbringen.
Sie quetschte sich und ihr noch rasendes Herz in den überfüllten Bus, ihre Schultasche – schwer wie ein Stein – fest umarmend. Tränen brachen aus ihr heraus. Nichts konnte ihre Tränen unterdrücken. Als sei sie ein zum Schlachthof geliefertes Tier, kraftlos, armselig, so stand sie im dichten Gedränge des Busses. So fuhr sie nach Hause. Und am nächsten Tag fuhr sie wieder zum Hintereingang der Schule, wo sie vorbei am Wachsoldaten musste. Solche Tage häuften sich auf ....

Und so fühlten sich die wunderschönen Frühlingstage im Mai für das Mädchen an.... Doch dieser Mai in der Stadt, der lässt sich nicht in Worte fassen, so schlimm war er gewesen. Die Tränen des Mädchens sind nicht einmal ein Tröpfchen von all den Tränen, die für die Stadt vergossen wurden. Der Schmerz des Mädchens war lediglich ein Sandkorn im riesigen Meer der Schmerzen ...

Obwohl dieses kleine Sandkorn so klein ist, möchte ich es dennoch genauer betrachten:

Unter dem vom Staat verhängten Ausnahmezustand werden viele Studenten verhaftet. In der Polizeistation herrscht Gesetzlosigkeit und Gewalt. Im Haus des Mädchens, in einer Ecke eines Zimmers, liegt eine verzweifelte Frau, die früher ihre Haare hübsch toupiert getragen hatte, zusammengerollt unter einer Decke. Ihr Sohn wird in dieser Polizeistation gefangen gehalten, hat sie gehört. Die ganze Nacht lang stöhnt sie leise unter der Decke vor sich hin und sie beißt sich auf ihre ausgetrocknete Zunge, auch lange, nachdem ihre Tränen versiegten. Mit einem dünnen Faden aus Wut und Angst, der in eine Nadel eingefädelt ist, stickt das jugendliche Mädchen das Abbild der unter einer Decke liegenden hübschen Frau auf ihr Herz.

Der Sohn der hübschen Frau, dessen Herz gerade kurz vor dem Explodieren ist und wie das Geräusch tausender marschierender Soldaten schlägt, blickt durch das kleine Fenster der Folterkammer auf das winzige Scheibchen Himmel. Ihm am Tisch gegenüber sitzt ein Typ in mittlerem Alter, muskulöser als ein Gangster, mit einer krächzenden Stimme, wie der einer Krähe.

Entlang seiner ermüdeten und zerzausten Haare, die noch von den Nachwellen des Schocks erzittern, stickt das Mädchen Stich um Stich am Bild auf ihrem Herzen.

Weil sie das Gefühl hat, dass, wenn sie weint, sie verliert, als ginge es um einen Kampf, unterdrückt sie ihre Tränen. Sie möchte stark sein. Sie möchte es schaffen ...
Von diesem Moment an scheint die Zeit plötzlich anders zu fließen.

Die Krankheit, Gewalt zu genießen, die Krankheit, Menschen zu Objekten zu machen, die Krankheit, andere Menschen zu unterdrücken, die Krankheit, die Menschen extrem zu separieren. – Werden diese Krankheiten nicht besiegt, dann macht es für die Zeit keinen Sinn zu fließen.

In solch einer Zeit, Tag für Tag, mehr und mehr, wird das Herz des Mädchens mit den Tränen der hübschen Frau und den zerzausten Haaren des Sohnes verziert und mehr und mehr von der Schuluniform mit weißem Kragen bedeckt, ... diesem weißen Kragen ...

Ein mit einem weißen Kittel bekleideter mir bekannter Arzt ruft meinen Namen. Ach so, ich bin in einem Wartezimmer in einem Krankenhaus. Netterweise hat mich der Arzt zuvor über meine Autoimmunerkrankung aufgeklärt und führt mich nun in das Behandlungszimmer. Feierlich erklärt er mir, dass sich meine Krankheit gebessert habe. Als ob ich aus einem Albtraum aufwache, hole ich einen tiefen Atemzug. Ich weiß nun, dass meine Krankheit heilen wird. Ein halbes Jahr würde es noch dauern, teilt er mir mit. Mit einem Rezept für Schmerztabletten in der Hand verlasse ich das Krankenhaus.

Plötzlich sehe ich in der Ferne einen Soldaten, der sich auf den Weg macht.
Ein Soldat, der seine Waffen verloren hat,
der seine Feinde verloren hat,
und plötzlich kraftlos in sich zusammenfällt,
mit ausgezogenen Stiefeln, barfuß.
Schritt für Schritt, so beginnt er zu laufen.
Es scheint, dass er den Weg spüren kann.
Barfuß fühlt er sich mit der Erde verbunden und irgendwie frei.
Seine Hände sind leer.
Von Ferne hört man einen Zug vorbeifahren.
Er spürt plötzlich sein Herz höherschlagen.
Auf nichts wartend, spürt er barfuß die Erde unter seinen Füßen und bleibt stehen: „Es ist in Ordnung, wenn du einfach so dastehst ...“,  denkt er.

In diesem Moment fließt eine kleine Träne über seine Wange und er bekommt Panik.
Er möchte diese Träne unterdrücken.
„Wie bizarr, ich beobachte selbst meine Träne“, denkt er.
„Ach, das ist nur ein Reflex, nur ein Tränchen, das macht nichts ...“, 
so spricht er vor sich hin ...

Dieser Mensch, dieser Soldat entfernt sich langsam aus meinem Blickfeld.
Ich hebe meinen Kopf hoch, bewege ganz langsam und vorsichtig meine Schulter und strecke meinen Arm gegen den Himmel. Weiße Wolken schweben über mir und der blaue Himmel bedeckt meinen gesamten Körper. PLUMPS! Ich würde gerne in den Himmel hineinspringen.

*1980, während der Militärdiktatur in Südkorea, wurden in der Stadt Kwang-Ju mehrere Hundert Zivilisten ermordet.
** weiße Kragen: Die Highschool-Uniform für Mädchen zwischen 13 und 18 Jahren hatte zu damaliger Zeit immer einen weißen Kragen.


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