Der König im Kopf
Über Geschmack, Gier und die Grenzen der Tradition

‚Wow, wie hast du das gekocht? Dein Gulasch
aus Sojafleisch schmeckt wie das Rindergulasch
meiner Oma!‘ – Dieses Lob begeistert mich. Mein
veganes Gulasch weckt Erinnerungen und löst
Freude aus. Motiviert experimentiere ich mit
neuen Geschmäckern und entdecke Gemüse wie
Knollensellerie oder Pastinaken neu, die ich mit
besonderer Wertschätzung zubereite.
Als ich anfange, Rezepte für pflanzliche Gerichte
zu schreiben – darunter das vegane Gulasch –
entdecke ich die Sprache des Geschmacks neu. Ich
beginne zu verstehen, dass gutes Essen weniger
mit dem ‚Was‘ als mit den Gefühlen zu tun hat, die
es auslöst. Ich notiere Worte, die die sensorischen
Facetten des Geschmacks einfangen: Köstlich,
herzhaft, zart, schmelzend – ein Reichtum, der sich
beim Kochen entfaltet.
Ich vermute, dass Appetit weniger mit Hunger als
mit dem Wunsch nach reichen Gefühlen zu tun hat.
Dieser Gedanke überzeugt mich – und doch zeigt
sich der Appetit oft launisch und unberechenbar.
Manchmal fühle ich mich ihm ausgeliefert, ständig
gezwungen, seine wechselnden Ansprüche zu
erfüllen. Es scheint, als hätte der Appetit ein
Eigenleben, über das ich nachdenken muss.
Der Appetit zeigt sich oft gemein. Mein Gehirn malt
Bilder von allem, was ich essen möchte und lässt mir
keine Ruhe. Plötzlich frage ich mich: Liegt das daran,
dass ich mich manchmal wie eine Sklavin meines
Appetits fühle?
Steckt im Geschmack des Essens eine Form von
Gier? Es wirkt, als thronte im Gehirn ein König,
dem das Volk Opfergaben darbringt: Walfleisch,
Nashornhorn, Haifischflossen, Bärenleber. Diese
Bilder tauchen vor meinem inneren Auge auf –
Fleisch, dargebracht zwischen Dank, Heilmittel und
Delikatesse.
Während ich nachdenke, erscheint vor meinem
inneren Auge das Profil einer großäugigen Frau wie
auf eine ägyptische Säule gemalt. Sie präsentiert
Opfergaben auf ihrer Hand, ihr zwinkernder Blick
wirkt ferngesteuert. Mit jedem Teller, den sie
serviert, scheint sie ihren König oder ihre Königin
beeindrucken zu wollen. Vielleicht sind diese Gaben
mehr als Nahrung – sie könnten Statussymbole des
königlichen Reichtums sein.
Das, womit man sich den Bauch füllt, scheint oft
ein Maßstab für Status zu sein. Doch die Gier nach
mehr kennt keine Grenzen. Immer höher, immer
größer, immer weiter. Selbst die schrecklichsten
Dinge werden plötzlich als exotisch oder kulinarisch
gefeiert. Dabei spüre ich deutlich die Grenzen der
Esskultur, ich spüre den dahinter verborgenen
Chauvinismus.
Leben und Essen sind untrennbar miteinander
verflochten – nicht nur, um den Hunger zu stillen,
sondern um zu fühlen, zu erleben. Es geht nicht
darum, wie lange wir leben, sondern wie bewusst
wir es tun. Doch die Gier nach Besitz und Macht
lenkt uns oft von diesem Gedanken ab, wie ein
Nebel, der uns den Blick auf das Wesentliche
verstellt. Was wäre, wenn wir diesen Nebel
lüften könnten, um Essen als das zu sehen, was
es sein sollte – ein Ausdruck von Respekt und
Wertschätzung, nicht von Überfluss?
Abwechslung – sie liegt in unserer Natur. Sie
entfacht Neugier, treibt uns an, Neues zu entdecken,
ohne dabei Grenzen zu überschreiten. Abwechslung
braucht keine Opfer, keine Wertungen, keinen
Besitz. Sie ist ein Tanz zwischen Geben und Nehmen,
ein Spiel des Genusses, das losgelöst ist von
Hierarchien oder Vergleichen. Sie zeigt uns, dass das
Beste nicht existiert – nur das, was uns in diesem
Moment bereichert. In dieser Gelassenheit liegt eine
Freiheit, die uns neu denken lässt: Wie viel mehr
können wir gewinnen, wenn wir loslassen?
„Ich schmeiße die Liste meiner ‚besten
Speisen‘ weg. ZACK!“
Geschmack ist ein lebhaftes
Durcheinander, das erst durch
Abwechslung zum grandiosen
Erlebnis wird.
Es geht heute nicht mehr darum, ‚Was
isst man, um zu leben?‘, sondern ‚Wie
isst man, um zu leben?‘
Dieser Gedanke gleicht einem Eisberg
– seine wahre Masse verbergen sich
unsichtbar unter der Oberfläche –
voller ursprünglicher Kraft.
Auf der weißen Spitze des Eisbergs
sehe ich einen Menschen, klein wie
ein Punkt. Dieses Bild erscheint vor
meinem inneren Auge, während meine
Emotionen langsam kühler werden.
Ich stelle die Beziehung zwischen
Geschmack und Besitz in den Raum.
ZACK!
Wie lange werfen wir noch unseren
Respekt vor den schwächsten Tieren
weg?
ZACK!
Nicht nur Menschen denken an den
Tod – auch Tiere tun es.
ZACK!
Ich denke darüber nach.
Mir wird klar: Gemein ist nicht der Appetit,
sondern unsere Esskultur – manipulierbar und
profitgesteuert. Sie wird heutzutage als falsch
verstandene Gerechtigkeit verkauft. Mit der Idee
‚Jeder soll Fleisch essen können!‘ etwa. Das lässt uns
die Augen davor verschließen, was billige Preise
tatsächlich anrichten.
Es ist Zeit, zu überdenken, welche Werte und
welches Menschenbild uns wichtig sind.
Wie ich geboren wurde, liegt nicht in meiner Hand –
wie ich lebe, schon.
Es spielt keine Rolle, woher ich komme, denn wir alle
sind miteinander verbunden.
Traditionen, die die Erde zerstören, sollten wir
hinterfragen.
Sie gleichen einem Sumpf, der uns langsam
verschlingt.
Gleich, ob wir schon „immer so gegessen haben“ –
dies darf keine Ausrede sein.
Als Lebewesen sollten wir versuchen, andere
Lebewesen zu respektieren und anzuerkennen.
Doch unsere Traditionen und individuellen
Freiheiten scheinen nur auf den Menschen
selbst ausgerichtet zu sein, als ob alles andere
nebensächlich wäre.
Seit ich mich pflanzlich ernähre, spüre ich nach
jeder Mahlzeit ein unbeschreiblich gutes Gefühl
– etwas Befreiendes. Früher war das anders:
Gegrilltes Fleisch hinterließ immer ein schweres,
unangenehmes Gefühl, das mir zunehmend fremd
wurde.
Der Satz ‚Es war immer so!‘ klingt noch nach, doch
meine innere Stimme widerspricht: ‚Nein, es muss
aber nicht immer so sein. Wir haben die Wahl – oder
sollten uns zumindest fragen, woher diese Chicken
Wings kommen.‘
Dann tauchen die grausamen Bilder der
Massentierhaltung in meinem Kopf auf:
Ein erschöpftes Huhn, das kaum laufen kann, hilflos in
einer Ecke auf seinen Tod wartend. Es hat nie die Sonne
gesehen, nie eine grüne Wiese. Ich muss die Augen
schließen.
Plötzlich flutet eine Serie von Gedanken meinen
Kopf:
Wenn wir uns über einen Vogel mit
außergewöhnlicher Lebensenergie entzücken – über
sein tägliches Aufplustern vor Lebensfreude – ihm
aber keine Empathie entgegenbringen, fehlt da
nicht Respekt?
Wird dieses respektlose Entzücken nicht immer
befremdlicher?
Und sind Sprüche wie ‚Das macht er großartig!‘,
‚Toll, er singt schöner als ein Mensch!‘ nicht längst
vertraut?
Besitz entfesselt keine echte Begeisterung. Er hat
mehr mit Beherrschung und Kontrolle zu tun.
‚Nutztiere‘ sind Objekte – so betrachten wir sie.
Und oft fühlen wir uns Tieren überlegen.
Emotionen – sie wirken
abgehackt, zerstreut.
Sie flattern im
Hintergrund der
grellen Reklame, die
unaufhörlich auf uns
einprasselt.
Meine Gedanken werden immer komplexer,
verlieren ihre Logik und stoßen aneinander. Jedes
Mal, wenn sie kollidieren, geben sie ein schrilles
Piepen von sich.
Das Piepen wird lauter, verbindet sich mit meinen
Gedanken – bis ein Rhythmus entsteht:
Nix. Nicht ein Deut können wir durchschauen – PIEP!
Zu verlockend ist der pinkfarbene Plastik-
Biojoghurtbecher mit seinen fünf roten Kirschen. Zu
niedlich das kleine Mädchen auf dem Tetrapack mit
rosa Wangen und blond gekämmtem Haar neben der
lächelnden bunten Kuh.
Nix. Nicht ein Deut können wir durchschauen – PIEP!
Oder das Bild eines Hamburgers:
Gewellte Schinkenscheiben ragen wie Rockspitzen
hervor, üppig übergossen mit Ketchup und Mayonnaise.
Ein Junge beißt in Zeitlupe hinein, mit einem Lächeln,
das bis zu den Ohren reicht – ein Sieger in seiner Pose.
MAMPF MAMPF MAMPF (Loop) …
So beeindruckend – doch …
Nix. Nicht ein Deut können wir durchschauen – PIEP!
Die sechs Hähnchenflügel, goldbraun und knusprig
mit einem Ketchup-Hut verziert,
liegen in einer schlichten quadratischen Pappschachtel
–
hübsch drapiert, wie ein Geschenk. PIEP! PIEP! PIEP!
Nix. Nicht ein Deut können wir durchschauen – PIEP!
Nix. Nicht ein Deut können wir durchschauen – PIEP!
Die Augen sind blind, die Ohren taub.
Es fühlt sich an, als würden wir einen Preis gewinnen,
immer auf das Siegertreppchen steigen –
TAPP TAPP, TAPP TAPP! (Echo)
Doch wofür?
Braucht es wirklich tote Tiere unter Ketchup,
um Geschmack und Augen zufriedenzustellen?
Wir verschließen die Augen,
weil es Gewohnheit ist, weil Tradition es so verlangt.
Aber wie wäre es, den Film zurückzuspulen?
Ihn noch einmal anzuschauen?
Tiere, die als Nutztiere für Menschen geboren
werden, bleiben oft in dieser Kategorie gefangen –
eine Entscheidung, die kein Kind bewusst trifft
und die nicht von Anfang an in unseren Köpfen ist.
Auf dem idyllischen Bild:
Eine Kuh steht im Stall in einer von Schnee bedeckten
Berglandschaft.
Das Kind des Hirten trinkt fröhlich Milch,
und die Kuh zwinkert mit großen glücklichen Augen:
MUH, MUH.
Niemand fragt, warum ihr Kalb fehlt.
Wir sagen nur: Diese gute Kuh, diese gute, dieses gute
Kind.
Doch das Kalb ist längst aus dem Bild verschwunden.
Geschmack und Wahrnehmung werden uns von
Anfang an antrainiert.
Wir nehmen nur den Anschein wahr.
Geschmack wirkt instinktiv, doch er ist geprägt –
anerzogen, nicht wahr?
Seltsam, wie die Erzählung von einem braven Kind
mit der vermeintlich glücklichen Milchkuh
verschmilzt.
Als ob ein Kind, das solch eine Welt ablehnt, kein
gutes Kind sein könnte.
Eine unsichtbare Gewalt gelangt durch unsere
Augen tief ins Gehirn, während das Offensichtliche
unbemerkt bleibt. PIEP!
Was man nicht weiß, macht einem nicht heiß. PIEP!
Nix. Nicht ein Deut können wir durchschauen – PIEP!
Nix. Nicht ein Deut können wir durchschauen – PIEP!
Und wieder nix. Nicht ein Deut können wir
durchschauen – …
(Loop, langsam leiser werdend).
Appetit zieht sich
wie eine unsichtbare
Spur durch die
Menschheitsgeschichte.
Geschmack und
Gewohnheit lassen sich
nicht trennen – sie
begegnen sich immer
wieder.
Auf den Speisekarten stehen Fleischgerichte wie
geerbter Reichtum aufgelistet:
Rinderrücken, Schweinerippen, Hähnchenbrust,
Lammkeule, Lachssteak.
Es wirkt wie ein heiliges Abendmahl, eine göttliche
Belohnung.
Mehr als ein Gesetz, beinahe eine ewige Tradition,
die sich über Jahrhunderte gehalten hat.
‚Man muss davon kosten‘, heißt es, ‚den besten
Geschmack erleben‘.
Und erst, wenn diese Begierde gestillt ist, scheint
Erfüllung möglich –
wie die richtige Antwort auf eine Prüfungsfrage,
direkt vom Teller ins Gehirn – mit der Note 1.
Jahrhunderte haben wir so verbracht.
Wir haben weggeschaut – oder wollten es nicht
sehen.
Solange nichts sichtbar ist, scheint es keine
Probleme zu geben.
Alle handeln so, es ist kein Einzelfall.
Aber sehen wir wirklich nichts?
Oder dürfen wir nicht sehen?
Vor meinem inneren
Auge taucht eine Frau
auf,
ähnlich einer
großäugigen Figur auf
einer ägyptischen Säule.
Sie trägt Opfergaben
stets bereit, sie
darzubieten.
Könnte es sein, dass sie einmal in meinem Kopf
lebte?
Dass sie manchmal meinem Appetit diente?
Dann sieht sie mich an – mit einem bizarren Blick.
Doch plötzlich wirft sie die Opfergaben weg,
dreht sich zur Seite und läuft vorwärts –
direkt auf mich zu.
In ihren Augen erkenne ich mein eigenes
verängstigtes Gesicht.
Ihre Augen scheinen zu fragen:
‚Was isst du heute?‘
Plötzlich lächelt sie – sanft, wissend,
als wüsste sie genau, was auf meinem Teller landen
wird.
Geschmeidig beginnt sie zu tanzen,
ihre Bewegungen dezent und fließend.
Eine leise Trommel begleitet ihren Tanz.
Sie wartet geduldig, tanzt weiter,
während ich mich frage, welche Entscheidung ich
treffen werde.
Ihre Augen bleiben auf mir,
‚Was isst du heute?‘.
Die Trommel schlägt weiter, leise und unaufhörlich.