Von Stille und Veränderung
Über das Schweigen der Natur und der Suche nach Sinn

Ist heute nicht morgen?
Kikeriki! Verstand an der Grenze
So sollte es jeden Morgen erklingen.
Aber wie?
Wie soll ich wissen, wann der Tag beginnt?
Fragst du, was mit mir los ist?
Ich bin gefangen – in engen Gehäusen, zusammen mit
Tausenden anderer Hühner.
Auf diesem Planeten, auf dem 100 Millionen Hühner
leben, um Fleisch für euch Menschen zu liefern.
Etwa 40 Millionen von uns Hennen legen jeden Tag ihre
Eier für euch.
Doch mein Leben kann jederzeit enden – hoffnungslos!
Mein letzter Wunsch?
„Ein Morgen, an dem ich frei die Sonne begrüßen
kann!“
„Ein Leben, das die Düfte der Erde einatmet!
Verstand an der Grenze
Kennst du diese Momente,
in denen dein Verstand plötzlich an seine Grenze
stößt?
Momente, in denen du eine unvorstellbare Gewalt
erlebst oder auch nur miterlebst?
Diese Augenblicke bohren sich schmerzhaft ins
Gehirn und du findest keine Worte, um sie zu
beschreiben.
In der Vergangenheit hatte ich immer wieder solche
Momente.
Wenn ich mich daran erinnere, taucht ein Bild in
meinem Kopf auf:
Ein Plattenspieler aus den 1970er-Jahren, eine
kaputte Schallplatte, die Nadel immer wieder an
der gleichen Stelle kratzt. Das Klangbild ist verzerrt,
brüchig, ein ruppiger, schleppender Rhythmus.
Dieser Rhythmus dringt in meinen Kopf,
wie ein Tintentropfen, der langsam klares Wasser
färbt. Ein stilles, unaufhörliches Drängen.
Gefangen in dieser Schleife blinken Fragen vor
meinen Augen auf wie ein pulsierender Schriftzug:
„Wie konnte es so weit kommen?
Wie kann man so denken?“
Langsam sinken diese Fragen in das gefärbte
Gehirn. Ich spüre eine Unruhe in mir, eine
unangenehme Schwingung um mich herum.
Ich fragte mich:
„Was ist nur in mir los?”
„Wie kann ich bloß so denken?”
„Wie kann ich bloß so unmenschlich sein?“
Oh, wie gelähmt ich bin!
Meine Gedanken verklebt –
meine Erkenntnisnerven im Stillstand.
Eine Frage nach der anderen blinkt auf,
ohne je eine Antwort zu finden.
Diese ungewollte Schleife dreht sich weiter –
immer weiter.
Ich fühle mich ausgeblendet –
wie gefangen in einem endlosen Kreislauf.
Unerwartet kehrt das Gefühl der Schleife zurück.
Doch diesmal änderte sich etwas:
Plötzlich verwandelt sich die
Nadel auf der Schallplatte in
einen Hühnerkopf, der in einem
Massentierhaltungsstall immer wieder
an der gleichen Stelle pickt – wie
besessen bis zum Bluten.
Ich habe diese Szene in einem
Dokumentarfilm gesehen
und in meinem Kopf entsteht
eine Überblendung: von der
alten Schallplatte hin zu diesem
Hühnerkopf.
Die Grausamkeit dieser Szene lässt
mich nicht los. Sie taucht immer
wieder in meinem Kopf auf.
Irgendwie verstand ich die Hühner
aus dem Film: Warum sie so
schmerzhaft, so verzweifelt pickten,
bis sie bluteten.
Da ist er wieder, dieser Moment,
in dem mein Verstand an seine Grenzen stößt.
Gefangen in einer Endlosschleife sucht er einen
Ausweg.
Aber mein Kopf hält es nicht mehr aus, dieses
Schreien von Tausenden Hühnern zu hören,
dieses verzweifelte Picken.
Ich höre meine innere Stimme: Wo ist die Grenze?
Der Ausweg ist klar –
für die Hühner bedeutet er den Tod.
Und ich frage mich:
Was ist mit mir?
Einfach wegdenken? Aber das widerspricht dem
Verstand.
Jedes Jahr werden
über 650*
Millionen Hühner
geschlachtet.
Ist das Freiheit?
Oder nur das
egoistische Handeln
von uns Menschen?
* allein in Deutschland
Kann ich als Mensch ein ‚Ich‘ benennen,
das versteht, was das für mich bedeutet?
Dafür muss ich nachdenken.
In langen, mühsamen Gedankengängen gelingt es
mir, diese Grenze schrittweise zu begreifen.
Eine Grenze, die ich gut bewahren will, ringt mit
einer anderen.
Ist meine Grenze nicht stark genug?
Ich lasse Kritik an mir zu … aber warum?
Liegt es daran, dass ich Streit vermeiden möchte?
Bin ich ein Mensch, der es allen recht machen will?
Wenn ja, warum?
Oder habe ich mich still zurückgezogen, weil ich
auch die Meinung anderer respektieren möchte?
Ist das nur eine Frage individueller Meinungen?
Aber was ist mit der Menschlichkeit, für die wir alle
gemeinsam einstehen sollten?
Haben wir ein individuelles Bild davon?
Die Fragen bleiben unbeantwortet und die
ungewollte Schleife drehte sich weiter.
Diese Situation kommt mir seltsam vertraut vor –
schon wieder!
Früher fühle ich mich oft wie ausgeblendet.
Vielleicht lag es daran, dass ich verunsichert war,
nicht klar denken konnte.
Es gab Momente, die großartig waren – Momente,
die ich damals hätte mehr wahrnehmen sollen,
die mich die Werte hätten mehr schätzen lassen
können.
Doch ich betrachtete alles eingeschränkt,
blieb still, zog mich zurück – war nur eine von vielen,
gefangen im ‚Mainstream‘, der mich matt und
stumpf gemacht hatte.
Aber jetzt kämpfe ich darum, mich aus dieser
klebrigen Endlosschleife zu befreien.
Die Grenze, die ich für richtig halte,
öffnet den Weg in die Zukunft.
Die andere Grenze – sie ist eine Illusion,
eine Grenze, die nur den eigenen Vorteil sucht.
Aber ich will mich von ihr nicht blenden lassen,
mich nicht durch sie irritieren lassen.
Man liest:
‚Das vollautomatischen Melkkarussell
kann 1000 Kühe melken …‘
Man hört:
‚Wir streben grenzenloses Wachstum
an ...‘
‚Lasst uns das Maximum vorantreiben
...‘
Solche Sätze klingen im Moment
harmlos, doch sie dienen oft nur der
Durchsetzung eigener Interessen.
Es klingt wie Freiheit – aber wenn das
Ziel nicht die Menschlichkeit ist, was
bleibt denn dann?
Jedes Jahr werden über 650 Millionen
Hühner geschlachtet.
Ist das Freiheit?
Oder nur das egoistische Handeln von
uns Menschen?
Mein Denken geht weiter – ich suche nach der
wahren Bedeutung der Grenze.
Es ist Zeit, die alten Muster in meinem Kopf
aufzuräumen.
Dabei öffnet sich eine neue Tür:
Eine Tür, die mir zeigt, wie aus solchen Ereignissen
neue Werte entstehen können, die in moderner
Sprache greifbar werden.
Moderne bedeutet für mich, Freiheit, Wohlstand und
Menschlichkeit miteinander zu verbinden.
Das ist für mich der wichtigste Wert: Mit allen
Lebewesen dieser Erde in Einklang zu leben.
Und so kehre ich zu meiner Suche zurück.
Etwas fehlt mir noch.
Ich höre das Schreien der Hühner – und …
in mir steigen gemischte Gefühle auf.
Wut und Nachdenklichkeit, eine Reihe von
Gedanken – skizzenhaft, bruchstückhaft.
Es klingt, als würde jemand laut sprechen,
direkt in meinem Kopf.
Es gibt Lebewesen,
die niemals die Sonne sehen,
die niemals ihre Mutter kennenlernen,
die niemals ein grünes Feld betreten.
Von ihrer Geburt bis zu ihrer Schlachtung
verbringen sie ihr kurzes Leben auf einem Fließband
– um dann geschlachtet, verpackt und ausgeliefert zu
werden.
„In Käfighaltung gezüchtet“,
„In Freilandhaltung aufgewachsen“,
„Mit Biofutter ernährt“,
„Keine Gentechnik eingesetzt“ –
so prangen die Aufkleber auf durchsichtigen
Plastikverpackungen, die wie das erzwungene Ende
einer Show die letzten Momente des Lebens dieser
Wesen festhalten.
Das jüngste Kapitel der
Menschheitsgeschichte –
es erzählt von ihrem
Umgang mit gezüchteten
Nutztieren.
Vor meinen Augen erscheint ein Kind,
ein Kind aus der Zukunft.
Mit entsetzter Stimme liest es
die Geschichte der Menschheit –
eine Geschichte darüber,
wie Tiere vom Menschen gegessen wurden.
An dieser Stelle stößt der Verstand des Kindes an
seine Grenze.
Bin ich noch auf dem Weg, einen
Ausweg für meinen Verstand zu
finden – einen freien Weg?
Geht es schon wieder nur darum,
mein schlechtes Gewissen zu erleichtern?
Ja, nur Pflanzen zu essen reicht nicht.
Aber diese Massenzüchtung für die
Fleischproduktion ist für meinen Verstand
unbegreiflich.
„Auf Fleisch verzichten“, das klingt nach Opfer
bringen – passiv und resigniert.
„Freiwillig auf Fleisch verzichten“, das klingt schon
besser, aber es ist ja auch bloß eine Art nichts tun.
„Fleisch verbieten“, das führt uns auch nicht weiter.
Die Dinge brauchen Zeit. Es braucht Wege,
um die Menschen davon zu überzeugen,
dass sie sich auch ohne Fleisch gut ernähren
können.
Es wird schon werden –
ich sehe das positiv.
Es wird schon –
ich bleibe optimistisch.
Alles wird gut!
Was mich zutiefst stört und bedrückt,
ist die Herabwürdigung der Tiere durch den
Menschen.
Dies macht mir Wut und lässt mich weitere Fragen
stellen:
Ist das nur eine Eigenschaft des Menschen?
Oder hat es mit unserer Kultur zu tun?
Kultur, die sich im Laufe unserer Geschichte
entwickelt hat?
Vielleicht hat unsere Zeit diese Fragen noch
nicht ausreichend reflektiert und in die Moderne
überführt. Ich spüre, dass in der Geschichte der
Menschheit etwas fundamental schiefgelaufen ist.
Noch immer zeigt sich die Natur der Erde großzügig
gegenüber den Menschen. Nun liegt es an uns, die
Natur zu verstehen, zu begreifen, neu zu lernen, was
es bedeutet, auf diesem Planeten Mensch zu sein.
BLINK, BLINK
Die Welt vor meinen Augen
verwandelt sich mit jedem Lidschlag
in ein neues Motiv.
Wenn man das Motiv sehen will,
öffnet sich einem die tatsächliche Welt.
Die sorglos vorbeiziehenden Wolken
sind nicht einfach nur Wolken. Die
Vögel, die auf den Bäumen sitzen und
deren Zwitschern meine Ohren streift,
sind nicht einfach nur Vögel.
Alles hat seinen Grund: Warum es existiert – und
eines Tages wieder verschwindet.
BLINK, BLINK
Die Welt vor meinen Augen
verwandelt sich mit jedem Lidschlag
in ein neues Motiv.
Eine Seele, deren Wünsche erfüllt sind,
verlässt die Welt und flattert irgendwohin.
Dort, im Irgendwo, könnte sie in ein neues Wesen
verwandelt werden – vielleicht wiedergeboren.
Oder sie wandert in eine neue Dimension,
entzieht sich unseren Augen, verschwindet in der
unendlichen Weite.
Das gehört zum Leben aller Lebewesen.
Und bis dahin sollte jedes Lebewesen die Freiheit
haben, sich zu entfalten zu können.
Aber geboren zu werden, nur um getötet zu werden
– das gehört nirgendwo hin.
Während ich diese Gedanken habe,
eröffnet sich vor mir ein neues Motiv.
Jeder Mensch trägt ein Zeichen auf
seinem Bauch –
die Narbe, die uns mit unserer Mutter
verbunden hat.
Auch wenn diese Verbindung physisch
getrennt wird,
bleiben die Gefühle des
‚Woherkommens‘
und der ‚Verbundenheit‘ ein Leben
lang bestehen.
Geboren zu werden, bedeutet Verbundenheit. Als Menschen tragen wir diese bedingungslose Verbundenheit in uns – ich spüre das.
Auch die Küken, die gerade aus ihrer Eierschale schlüpfen, piepsen nach ihrer Mutter.
Was sie wirklich suchen, ist Verbundenheit – und ich kann ihr Piepsen hören.
BLINK, BLINK
Ein Zitronenkuchen –
ohne Ei, ohne Butter.
Das ist mein neues Motiv:
goldgelb, duftend nach Zitrone –
gebacken ohne gebrochene Seelen,
ohne Tränen.
Mehr philosophische Gedanken braucht es nicht.
Empathie als Schlüssel zur
Erkenntnis
Meine Gedanken beginnen, die Welt aus einem
neuen Blickwinkel zu betrachten.
Ich erkenne, dass die Menschen die Würde der
Natur lange vernachlässigt haben –
oder sie bewusst ignorieren.
Wäre es nicht schön, sich an der Schönheit und
Großartigkeit der Natur zu begeistern, ohne zu
urteilen, welche Lebewesen freundlicher oder
nützlicher für uns sind?
Die Erde gibt genug für uns alle.
Doch intelligente Menschen sollten würdevoll mit ihr
umgehen – nicht sie plündern.
Diese Raubtier-Mentalität zerstört die Empathie der
Menschen mit den Tieren und sogar mit uns selbst.
Dieses egoistische Denken macht uns blind für
die Großartigkeit der Natur – und dümmer, als wir
glauben wollen.
Es braucht Zeit.
Eine zweite Chance, damit die Menschen wieder
lernen, alle Lebewesen mit Empathie zu begegnen.
Meine Augen des Herzens beginnen, andere Welten
zu sehen. Mit geschlossenen Augen stelle ich mir
vor:
Die fliegende Seele eines Wals
wischt ihre Traurigkeit fort
und bereitet sich langsam auf den Abschied vor.
Vielleicht wird sie zu einer Wolke,
die leicht hin und her schwebt?
Die verirrte Seele eines Zugvogels
setzt sich sanft auf einen Weidenbaum,
streichelt ihn mit einem kurzen Innehalten,
und der Baum wiegt sich tanzend im Wind.
Und dort, in den Wolken,
atmet noch etwas …
Ja, da ist es!
Das kleine Schweinchen,
das immer geradeaus gerannt war,
hat endlich einen Ort gefunden, um
ein Nickerchen zu machen.
Habe ich geträumt?
Plötzlich wache ich auf.
BLINK, BLINK
Für einen kurzen Moment erscheint ein Motiv vor
meinen Augen – und wird sofort wieder von ihnen
aufgesogen.
BLINK, BLINK
Die Welt draußen verwandelt sich mit jedem
Lidschlag in ein neues Bild, eine neue Landschaft.
Irgendwann in der Zukunft sehe ich ein friedliches
grünes Feld.
Über ihm eine schwebende Seele – still, ruhig –
vielleicht die Seele eines Wals.
Wunderschöne Eindrücke dringen in meine Augen,
friedvolle Gedanken berühren meinen Körper.
Es erinnert mich an das Fischglas voller
Erinnerungen, das irgendwann aus meinem Kopf
befreit wurde.
Darin bewegten sich viele blubbernde Fische,
die meiner Gedankenwelt folgten,
bis sie schließlich verschwanden.
Ein Fisch malte Bilder in den sandigen
Meeresboden, die immer wieder verschwanden –
um dann wieder neu gemalt zu werden.
So male auch ich weiter.
Bilder voller Begeisterung und Bewunderung
für das Leben und das Lebendige.
Endlich beginnt eine Überfahrt
zwischen Bildern und Gedanken.
Durch meine Augen leuchtet das Licht meines
Herzens:
„Siehst du es auch?
Ich blicke in die Wolken,
und da liegt das kleine Schweinchen,
das einmal frei über die Autobahn gerannt ist.
Es macht ein Nickerchen.
Diese kostbare Freiheit,
die es kurz genießen konnte –
vielleicht träumt es noch davon.
Und daneben … siehst du es auch?
Was siehst du?“
BLINK, BLINK
Mit jedem Lidschlag,
aus meinem Herzen,
aus meinen Augen,
herrscht ein Augenblick der Stille,
der meine flüsternde Stimme aufnimmt:
„Ist heute nicht schon morgen?“
BLINK, BLINK
Stille …
Dort, wo das Morgen hinblickt,
stößt der Verstand des Kindes nicht mehr an seine
Grenze.
BLINK, BLINK
Stille …
In dieser Stille sehe ich ein sanftes Lächeln.
Ein alter Baum streichelt die Stille
wie ein Lächeln im Wind.
Und da ist es:
Das Lächeln.
Ein freundliches Lächeln,
das über das Morgen hinaus strahlt.
BLINK, BLINK …
Und …
Mein Morgen ist genauso kostbar
wie das der 650 Millionen Hühner.
BLINK, BLINK …
„Ist heute schon nicht morgen? …“
Ki…ke…ri…ki…
Nun kann ich weder krähen noch
gackern.
Stattdessen scharre ich im Boden.
Belanglos, ohne Ende. Pick-Pick!
Mein Schnabel hat kein Gefühl mehr.
Irgendwann habe ich kein Schnabel
mehr.
Ein großer Gockel wollte ich mal
werden. Jetzt aber möchte ich nicht
mehr.
Kopflos scharre ich den Boden.
Belanglos, ohne Ende. Pick-Pick!
Das ist meine Uhr, Pick-Pick!
Bis ich nicht mehr kann, Pick-Pick!
Ist das Evolution?
Meine Gene sind gehackt und
umcodiert.
Ich bin weder Henne, weder Vogel.
Ich habe weder Flügel, weder Feder.
Ist das Evolution?
Hörst du meine Fragen – wie der
knarzende Ton einer kaputten
Schallplatte?
Ist das Evolution? Pick-Pick!
Ist das Evolution? Pick-Pick!
Ist das Evolution? Pick-Pick!