Appetit
Über Genuss, Verantwortung, Tradition, Wandel und Werte

„Arbeiten, um zu essen! Essen, um zu leben!“
Mit diesen Sprüchen wuchs ich auf – geprägt von
der Nachkriegsgeneration.
Ich erinnere mich daran, wie vier Wände und genug
zu essen schon als Erfüllung des Lebens galten.
Dafür war ich dankbar, auch wenn mir das damals
nicht wirklich bewusst war.
Doch mir war das nie genug.
Die Idee eines freien Lebens ohne Zwang bei
der Arbeit und beim Essen erschien mir stets
als wichtiger Wunsch – ein Ideal, das tief in mir
verankert ist und bis heute Bestand hat.
Diese Vorstellung gibt meinem Leben Sinn.
Sie zeigt mir, was es bedeutet, als Mensch Würde zu
erfahren.
Was ich esse, definiert, wer ich bin.
Woran ich arbeite, spiegelt, wofür ich lebe.
Doch Leben bedeutet mehr: Würde und Liebe.
Als ich begann, mich mit diesen Einsichten intensiver
zu befassen, entstand aus kleinen Notizen eine
Sammlung von Geschichten – kleine Erzählungen,
die mir Sinn geben sollten.
Diese Gedankenwelten fordern mich heraus.
Sie überraschen mich und ich spüre, dass der Weg,
der vor mir liegt noch lang ist.
Vor mir auf dem Tisch liegt ein frisch aus der Bäckerei abgeholtes Croissant – es duftet! Ich liebe Croissants, aber ich greife immer zu veganen Varianten. Heute genieße ich mein veganes Croissant mit einem Milchkaffee aus Pflanzenmilch. Köstlich!
Endlich gibt es vegane Croissants in immer mehr Bäckereien. Und ja, die Croissants ohne Butter schmecken genauso gut – fein und aromatisch, außen knusprig und goldbraun wie ein Sichelmond, innen weich und luftig wie Zuckerwatte. Der erste Biss – dieses knisternde Geräusch – macht sofort Appetit auf mehr.
Croissants sind meine Schwäche!
Manchmal fühle ich mich fast abhängig von meinem
Appetit.
Das klingt so menschlich, so individuell.
Für mich bedeutet pflanzliches Einkaufen oder selbst
Kochen, meinem Geschmackssinn zu folgen
und gleichzeitig mein menschliches Ego zu
respektieren.
Doch trotzdem bleibt manchmal ein
Nachgeschmack.
Auch wenn ich gerade ein köstliches veganes
Croissant vor mir habe –
ist es, als hätte ich etwas vergessen.
Was genau steckt eigentlich hinter unserem
Geschmackssinn?
Ich spüre, dass ich da etwas übersehen habe …
Ich blättere in meinen Gedanken zurück – zehn
Jahre, um genau zu sein.
Damals, nach einer schweren Krankheit, begann ich,
bewusster darauf zu achten, was ich zu mir nehme.
Es war ein Wendepunkt.
Ich stieß auf die Erkenntnis:
‚Was man isst, ist wichtiger als der Geschmack.‘
Der Fleischkonsum hat keine Zukunft –
so kann es nicht weitergehen.
Diese Einsicht hat mich damals erleichtert.
Natürlich kann man Geschmack nachahmen,
aber das ist komplizierter, als man denkt.
Welche Geschmäcker benennen wir eigentlich?
Die von bestimmten Körperteilen der Tiere? –
“Nackensteak”.
Oder die eine bestimmte Altersgruppe von Tieren
beschreiben? – “Kalbfleisch”.
Solche Begriffe haben sich tief in unserer Sprache
eingenistet.
Ich frage mich:
Züchten und schlachten wir
Tiere wirklich nur wegen des
Geschmacks?
Geht es um angeblich
lebenswichtige Nährstoffe?
Oder steckt noch etwas
anderes dahinter?
Was bedeutet eigentlich
‚Geschmack‘?
Was verstehen wir unter
‚Appetit‘?
Diese fast bitteren Fragen führten mich zu
einer entscheidenden Erkenntnis:
Wir können unseren Appetit entschlüsseln.
Wenn man lernt, die Botschaften des Appetits zu
verstehen, wird vieles klarer.
Ich habe das Gefühl,
dass ich genau das gerade lerne.
Besonders auffällig ist für mich,
wie stark Werte mit Appetit verbunden sind.
Was ich essen möchte und was mir schmeckt –
all das liegt in den Werten des Appetits.
Langsam beginne ich zu verstehen, woher diese
Werte kommen und wie sie meinen Appetit prägen.
Es fühlt sich an, als ob ich endlich etwas
Wesentliches erkenne.
Diese Einsicht habe ich meiner Krankheit zu
verdanken. Ohne diese Krankheit wäre ich wohl
immer wieder gegen dieselbe Wand gefahren.
Jetzt nehmen meine Gedanken Gestalt an.
Ein klares Muster entsteht –
und ich bin neugierig, wohin es mich führen wird.
Ich möchte die Werte meines Appetits für die
Zukunft entschlüsseln und vorausdenken.
Dieser Plan gibt mir ein gutes Gefühl.
Ich bin auf dem richtigen Weg. So scheint es mir.
Ich flüstere mir zu: Immer positiv denken.
Plötzlich steigt mir der Duft eines Croissants in die
Nase. – Ich zoome tiefer in meine Gedanken:
Vor mir sehe ich ein goldbraun gebackenes,
knuspriges veganes Croissant.
Keine Butter.
Keine Tränen eines Kalbs.
Nur der verführerische Duft …
Warum mögen wir eigentlich Croissants?
Weil es knusprig ist?
Wegen des Geräuschs?
Eines weiß ich sicher: An der Butter liegt es nicht.
Denn ein Croissant kann auch ohne Butter lecker
schmecken.
Doch dann erinnere ich mich an die Bilder der
Fabrik, in der tausenden Kühen ihre Milch mit
Maschinen abgepumpt werden, um daraus Butter
zu machen.
Ich verliere meinen Appetit.
Egal, ob es knusprig, saftig oder süß ist –
manche Szenen sind einfach zu abstoßend.
Und dann diese Augen.
Die verängstigten Augen der ihrem Ende
entgegensehenden Kühe, die im Schlachthof stehen
…
Ist das die Zukunft, die vergangene Generationen
sich vorgestellt haben?
Stecken diese Werte hinter unserem Appetit?
Wenn ich daran denke, verblasst mein Appetit noch
mehr.
Ich habe lange genug weggesschaut.
Ich habe meine Augen verschlossen,
so habe ich gegessen.
Schwer zu verdauen, was für einen Geschmackssinn
ich damals hatte ...
Schließlich stoße ich auf eine grundlegende Frage:
Was bedeuten Tiere für
uns Menschen?
Tiere denken. Tiere fühlen.
Tiere haben auch eine Art Sprache.
– Dennoch war ich lange Zeit nur wegen meines
Appetits an den Tieren interessiert.
Als Homo sapiens scheinen wir die Fähigkeit
verloren zu haben, andere Lebewesen zu
bewundern und zu respektieren.
Es fühlt sich an, als hätte unsere Menschlichkeit
einen Stillstand erreicht –
aus Arroganz,
aus Wahnsinn?
Das Croissant auf dem Tisch scheint mich
anzusehen, mit einem leisen, schelmischen Lächeln.
Ja, ich bleibe dran.
Ich genieße mein veganes Croissant.
Der Weg fühlt sich richtig an.
Appetit ist ein Spiegel
unserer Würde
Manchmal verhält sich Appetit wie
ein Schauspieler,
der selbst seltsamste Werte
geschmackvoll inszeniert.
‚Es schmeckt! Ist das nicht alles?‘.
Flüstert der Appetit, verführerisch
und zärtlich.
Doch immer wieder drängt er mich,
lenkt und manövriert mich,
bis ich kaum noch nachdenke, was ich
esse.
Vielleicht braucht mein Appetit ein
neues Drehbuch?
Eines, das ihn an die richtigen Werte
erinnert …
Ich erinnere mich an meine Jugend,
zwischen Fish Mac und Chicken Wings.
Minutenlanges Zögern beim Bestellen,
während hinter mir die Schlange immer
ungeduldiger wurde.
Die Auswahl war überwältigend –
aber irgendwie fühlte es sich cool an.
Cool dazuzugehören.
So habe ich ein halbes Leben lang gegessen,
ohne nachzudenken,
ohne zu fragen,
einfach alles, was mir vor die Nase kam.
Und ich habe es genossen –
den cremigen Milchshake,
all die Dinge, die ich als Kind nicht haben durfte.
Vielleicht war es gerade deshalb so verlockend.
Mein Vertrauen in das Angebot war grenzenlos.
Naiv, blind.
Blind für das Woher:
Woher kommt dieser Geschmack?
Woher diese Cremigkeit?
Wie entsteht ein Milchshake?
Diese Fragen habe ich nie gestellt.
Über die Werte meines Appetits habe ich nie
nachgedacht.
Ich habe einfach konsumiert.
Für eine konsumorientierte Gesellschaft:
wie perfekt war ich da.
Heute frage ich selbstverständlich nach:
Ist dieses Brot vegan?
Es wird ohne Milch und Butter gebacken –
das ist mir wichtig.
Nicht nur, weil es mir hilft, eine bewusste Wahl zu
treffen, sondern weil ich jetzt genau weiß, was ich
will.
Endlich!
Ist Veganismus nur eine Mode?
Für mich ist es das Mindeste, was ich tun kann.
Manchmal muss ich mich rechtfertigen:
‚Ach, du isst kein Fleisch? Wie kannst du dich bloß
ernähren?‘
Solche Bemerkungen höre ich oft,
oft begleitet von einer mitleidigen Stimme und
distanzierter Haltung.
Früher hätte mich das aufgeregt –
mein Blutdruck stieg.
Heute bleibe ich gelassen.
Denn ich war einmal genauso.
Ehrlich gesagt.
Aber diese ‚Wir-gegen-Ihr‘-Spielchen?
Die möchte ich nicht mehr mitmachen.
Probleme warten auf Lösungen und diese Spielchen
lenken nur vom Wesentlichen ab.
Hatte ich überhaupt eine Wahl?
Geht es beim Verzicht auf Milch und Fleisch wirklich
um eine Entscheidung?
Bin ich einfach nur jemand, der sich bewusst
pflanzlich ernähren möchte?
Oder ist es ein Protest –
gegen die Haltung, dass wir uns alles von diesem
Planeten nehmen dürfen?
Je mehr ich darüber nachdenke,
desto verworrener erscheint mir die Situation.
Ist sie nicht tatsächlich wirr und chaotisch?
Verstrickt in Behauptungen über Moral,
Ethik, Kultur, Gesundheit und Freiheit?
Aber sollte nicht jede Sichtweise respektiert werden
– egal aus welcher Richtung sie kommt?
… Ich möchte simpel denken …
Welche Geschichte erzählt ein Schnitzel –
so beliebt, so oft auf Speisekarten zu finden?
Es ist voller Tradition.
Aber rechtfertigt dies, dass Schweine weiterhin
geschlachtet werden?
Hier beginnt das Chaos in meinem Kopf.
Soll ich verzichten? Und warum?
Ein Teil von mir sagt:
‚Lass sie doch ihr Schnitzel haben.
Es ist doch Bio-Fleisch, und die Schweine hatten
bestimmt ein glückliches Leben.‘
Aber für mich ist es inzwischen ganz einfach.
Offen und ehrlich: Töten ist Töten.
Für mich geht das nicht.
Es gibt keinen besseren oder schlechteren Tod für
ein Schwein.
Der Geschmack eines Schnitzels ist für mich kein
Argument mehr.
Die eigentliche Frage lautet:
Wie kreiere ich Geschmack und Genuss –
ohne ein Schwein zu schlachten?
Das sollte doch möglich sein!
Warum halten wir so krampfhaft an diesem alten
Kochen fest?
Beschönigen wir dabei die Vergangenheit nicht zu
sehr?
Daran schließen sich weitere Fragen an:
Was ist eigentlich “Tradition”?
Was bedeutet eigentlich “original”?
Wenn Tradition in unserer Zeit keinen Sinn mehr hat, sollte man sie dann nicht verändern?
Traditionen haben sich doch immer gewandelt. Der Geschmackssinn hat sich ebenfalls immer geändert.
Lebendige Tradition bedeutete schon immer Anpassung und Wandel.
Nur so konnte sie überleben.
Aus meiner Sicht ist Evolution ein ständiger Ausdruck des Lebenswillens.
Wenn sie an eine Grenze stößt und ihre eigenen Grenzen erkennt, wendet sie sich in eine andere Richtung – immer auf der Suche nach einem neuen Weg, immer darauf bedacht, sich weiter zu entwickeln – bis ans Ende des Lebens.
Heute darf nur draußen geraucht werden. Raucher wurden abgeschnitten von ihrer ‚Freiheit‘, die sie einst genossen hatten.
Hier hat sich die Geschichte geändert,
eine Tradition wurde gebrochen,
eine neue Wahrnehmung entstand.
Dasselbe wird mit Milch und Fleischkonsum passieren.
Was heute noch als Standard gilt,
wird sich bald rechtfertigen müssen.
Irgendwann werden Fleischesser in der Minderheit sein und Fleisch von zuvor getöteten Tieren
wird gesondert ausgewiesen werden.
Das neue Normal ist
bereits die pflanzliche
Ernährung.
Wir brauchen neue Vokabeln
Wir brauchen neue Vokabeln,
neue Begriffe für neue
Geschmackswelten.
Wörter wie Steak, Wurst,
Quark oder Gulasch
passen immer weniger in
unsere Zeit.
Die Erinnerung an Fleisch
wird verblassen und eine
jüngere Generation
wird vom Geschmack des
Fleisches erst gar nichts
mehr wissen.
Wir brauchen ein neues
Drehbuch für unseren
Appetit.
Eines, das unseren Werten
entspricht und unsere
Überzeugungen spiegelt.
Die Sprache des Geschmacks
ist zu oft mit der
Vergangenheit verbunden.
Der Geschmack von
“Rindfleisch”, “Geflügel”,
“Käse”, “Fisch” –
Diese Begriffe sind
altmodisch, unmodern und
irgendwie engstirnig.
Diese Worte gehören
eigentlich nicht mehr in
unsere Welt.
Wenn wir uns auch ohne Fleisch gut –
ja, sogar sehr gut – ernähren können,
warum halten wir so am Fleisch fest?
Hinter dem Appetit steckt
etwas Wesentliches –
es geht um Würde.
Genuss bringt Freude, satt zu sein sichert das Leben.
Auf den ersten Blick scheint das ausreichend zu sein.
Aber rechtfertigt Genuss und Freude alles?
Das erscheint mir unlogisch und unehrlich.
Was treibt diesen unstillbaren Wunsch, Fleisch zu
konsumieren?
Früher, in Zeiten des Hungers, hieß es:
‚Es wird gegessen, was auf dem Tisch kommt.‘
Heute heißt es:
‚Fleisch soll sich jeder leisten können.‘
Wohlstand – ein großes Ziel der Menschheit.
Doch was ist Wohlstand eigentlich?
Was ist Wohlstand – ohne Würde?
Fleisch ist Symbol unseres Wohlstands geworden.
Viele Menschen sehen Tiere nur als würdelose
Wesen, als Objekte, als Dinge, die sie nutzen
können, die ihnen gehören.
Es ist höchste Zeit, darüber nachzudenken,
wohin uns dieser Weg führt.
Unser Verhältnis zur Natur spiegelt sich tiefgründig
in unserem Appetit auf Tiere.
Ist es Macht?
Geht es um Töten?
Möchten wir Tiere bloß züchten, einfach weil wir es
können?
Gibt uns Geschmack auf Tierfleisch ein Gefühl von
Überlegenheit?
Oder sehen wir Tiere einfach bloß als Ware, als
Quelle für Proteine von Millionen von Menschen?
Während ich diesen Gedanken nachhänge,
höre ich eine Stimme aus der Vergangenheit –
wie die eines Sprechers aus einem alten Schwarz-
Weiß-Fernseher, untergebracht in einer klobigen
Plastikbox. Die Worte klingen rau, der Ton ist hart:
‚Appetit? Essen? Es gibt doch Wichtigeres!‘
Früher habe ich solche Stimmen oft ignoriert,
mein Ohr einfach abgeschaltet.
Heute weiß ich:
Es ist richtig, selbst zu denken, den Kopf zu
gebrauchen.
Es geht um Würde.
Meine Würde.
Die Würde der Tiere.
Würde verdient es, geschützt zu werden.
Unser Appetit spiegelt unsere Würde wider.
Die Frage ‚Appetit wonach?‘ trägt Werte in sich.
Werte, die wir bisher selten hinterfragt haben.
Wohin führt uns unser Appetit?
Wie gestalten wir eine Zukunft mit Würde?
Immer wieder höre ich eine innere Stimme:
‚Der Homo sapiens kann es besser!
Lasst uns unseren Verstand benutzen!‘
Ich atme tief durch.
‚Guten Appetit‘ – Was bedeutet dies
eigentlich für mich?
Jetzt erst nehme ich diesen Ausdruck
bewusst wahr.
Mein Magen knurrt.
In meinem Kopf regt sich etwas.
Meine Geschmackssensoren scheinen
unmerklich etwas zu de-co-die-ren.
Entsteht hier gerade etwas Neues, eine
neue Art Appetit?
Ein mit Würde und Bewusstsein
verbundener Appetit?
Wohin führt uns unser Appetit?
Wie gestalten wir eine Zukunft mit Würde?
Die Denkende Zunge
Nächte lang flackert ein seltsames Gefühl in mir
auf – als ob Teile von mir zerfallen, wie das Laub im
Herbst von den Bäumen fällt.
Es tut nicht weh, hinterlässt aber eine sonderbare
Leere, die sich dennoch angenehm anfühlt.
Vielleicht hat mein Appetit begonnen, sich neu zu
codieren. Die alten Sensoren der Vergangenheit
verschwinden langsam.
Ein sanftes Rauschen umgibt mich.
Ein Hungergefühl, doch es ist kein Verlangen
nach Essen, sondern nach etwas anderem. – Ein
irgendwie entleertes Gefühl.
Dieses Gefühl setzt sich in mir fest und ich spüre,
dass etwas in mir in Bewegung kommt.
Gut so.
Parallel tauchen klare Bilder aus der Vergangenheit
auf. Die früheren Tage scheinen wie konserviert –
doch ihr Haltbarkeitsdatum ist längst abgelaufen.
Wie unter einer Plastikfolie wirken sie verzerrt,
gestapelt und reglos, während sie vor meinem
inneren Auge immer kleiner werden. Wie ein Bild,
aus dem langsam herausgezoomt wird.
Nächte voller entleerter Gefühle wechseln sich ab
mit solchen klaren Bildern der Vergangenheit.
Gestapelt und abgepackte Erinnerungen werden
langsam weggeschoben, verdrängt. Ein automatisch
fast mechanisch ablaufender Prozess.
Langsam gewöhne ich mich an diese gemischten
Gefühle. Und ich frage mich, ob ich selbstbezogener
geworden bin – oder einfach nur müder.
Meine Gefühle wirken aber immer blasser, kraftloser,
als hätten sie ihren Schwung verloren.
Ich versuche, die Gefühle zurückzuholen,
aber etwas scheint dies verhindern zu wollen.
Plötzlich stoppt dieser Prozess und meine Gefühle
nehmen wieder Fahrt auf. Auf einmal spulen die
Bilder der Vergangenheit rasend schnell und
rückwärts ab und fliegen auf mich zu.
Meine Wut und mein Schmerz aus der
Vergangenheit kehren zurück. Deutlich spürbar.
Seltsamerweise bleibe ich ruhig.
Wo bin ich hier?
Ich sehe mich im Spiegel.
Ich sehe mich in meinen Augen,
meinen Augen, die schweigen.
Ein Schweigen in lauter Stille.
Ich sehe nicht nur meine Augen.
Ich sehe weit entfernt, tief in der Dunkelheit,
andere Blicke: Wehrlose Augen,
aus den Schatten dunkler Käfige starrend.
Ich spüre diese schmerzenden Blicke.
Ich höre den Hall aus der Tiefe der lauten Stille.
Ich empfinde die Wut dieser ahnungslos getöteten
Wesen.
Ich fühle diese rastlos schwebenden Seelen.
Der schwebende Wal, der mich begleitet, ist noch da.
Die gehetzten Schweine, die Flügel suchenden Hühner
– sie alle verweilen in dieser bedrückend lauten Stille.
Ich schließe meine Augen. Doch sie bleiben – beharrlich.
Sobald ich meine Augen schließe, nehme ich die
zu mir sprechenden Blicke wahr, die mich aus dem
Dunkeln anstarren. Aus dieser Stille, die so laut ist.
Diese Stille. Ist sie friedlich oder bedrückend?
Noch kann ich es nicht sagen.
Diese Stille. Ist sie verschwommen oder klar?
Noch kann ich es nicht deuten.
Diese Stille, die die Wahrheit verhüllt.
Die sich hin und wieder aufdrängt – gewaltsam und
erbarmungslos.
Langsam öffne ich meine Augen:
unsicher, unentschlossen.
Ein bitterer Geschmack legt sich in meinen Mund,
übelkeitserregend, fast giftig.
Mein Magen verkrampft sich, als müsste er etwas
loswerden, obwohl er leer ist.
Was ist bloß mit mir los?
Die schmerzende Stille wird unerträglich,
überwältigend und unwirklich.
Langsam begreife ich ...
Tief in der schmerzhaften Stille scheint
eine Wahrheit begraben zu liegen - die
der verlorenen Seelen im Schatten
unseres Appetits.
Ich wende mich vom Spiegel ab –
und plötzlich höre ich hinter mir ein seltsames
Geräusch.
Etwas stürzt zu Boden.
Kleine Figuren fallen, ihre Gesichter leuchten wie
Monitore, auf denen unentzifferbare Botschaften
flimmern. Sie fallen immer weiter –
scheinbar ohne Ende.
Ein plötzlicher Gedanke trifft mich – schockartig:
Bin ich eine dieser Figuren?
Warum befinde ich mich noch hier?
Panik durchströmt mich.
Der Boden scheint mir unter den Füßen
wegzuziehen.
Doch als ich mich erneut dem Spiegel zuwende,
ist alles wie zuvor.
Da bin ich wieder. – Im Hier und Jetzt.
Meine Zunge fühlt sich taub an,
trockene Bitterkeit legt sich auf sie.
Ich spüre Hunger und Durst zugleich –
ein seltsames, drängendes Verlangen.
Eine Erkenntnis durchbricht die Stille:
„Was dir schmeckt,
worauf du Appetit
hast, was du isst – das
spiegelt dein Selbst
wider.“
Mein Blick wird klarer.
Die verlorene Würde
der Tiere. –
Früher war sie hinter
meinem Appetit
verborgen.
Ich atme tief durch und schließe meine Augen.
Ein leises „Huch“ entfährt meinen Lippen.
Ich spüre, dass mich diese Erkenntnis nicht mehr
loslassen wird.
Wie fühlt sich ein neuer Appetit, ein erneuerter
Geschmack an?
Appetit und Geschmack, die keine verlorenen Seelen
mehr in sich tragen?
Als Homo sapiens sollten wir doch längst verstanden
haben, dass wir doch eine “denkende Zunge” haben!
Ein Verstand, der in unserem Appetit und eine
Zunge, die in unserem Geschmack immer die Würde
aller Lebewesen in sich trägt.
Ist das der Schlüssel?
Ist das nicht der Weg in die Zukunft?
Ich spüre, wie meine Zunge zu denken beginnt.
Wie sie den Geschmack neu interpretiert.
Wie mein Appetit sich von der Last vergangener
Gewohnheiten befreit.
Wie ich beginnne, mich in einer neuen Zeit
angekommen zu fühlen.
Jetzt kann ich mit gutem Gewissen sagen:
Guten Appetit!
Ich spüre, wie meine
Zunge zu denken
beginnt.
Wie sie den
Geschmack neu
interpretiert.
Wie mein Appetit
sich von der Last
vergangener
Gewohnheiten befreit.